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Theater ist ein Lebensmittel

Es gibt Millionen Träume. Und Millionen Menschen, die ihre Träume nie verwirklichen. Das ist das Besondere an Julia Lindig. Sie träumt. Aber das, was dieser ungewöhnlichen Schauspielerin in den Sinn kommt, packt sie an. Mit eisenhartem Griff – voll Empathie und Zartheit. Und immer geht es der Mutter zweier fast erwachsener Jungs dabei um – den Menschen; es geht ihr darum, die ganz individuellen, besonderen Eigenarten des Seins zu finden und sichtbar zu machen.

Julia Lindig tut das mit den Mitteln des Schauspiels.

„Ja, deshalb habe ich Öffnet externen Link in neuem Fensteractorscut.com gegründet, als ich selbst aufgehört habe, als Schauspielerin zu arbeiten.“ Die Frau, die auch in der Reife ihrer Erfahrung als Ehefrau und Mutter noch den Schalk des jungen Mädchens um ihre Mundwinkel spielen lassen kann, schaut auf die Zehenspitzen des linken Fußes, die aufrührerisch wippen. „Ich war in eine Art Starre verfallen, weil ich – gerade mal 40 Jahre alt - nur noch Trinkerrollen angeboten bekommen hatte; sicher schöne, bei denen ich in den Armen von Harald Juhnke schmachten durfte. Aber das war eben nicht ich.“

Ganz aktuell mache sie ein Theaterprojekt, das ihr einen neuen, verantwortungsbewussten Gestaltungsraum gibt. „Da gibt es vieles zu entdecken, zu lernen und einen ganzen Schatz an neuen Blicken und Erfahrungen zu machen. Reich werden auf eine andere Art, das ist mein Ziel.“

Kreativität und Neugierde - eine Entdeckung 

der Lebensvielfalt und der Kunst

Der Anfang ist gemacht: Kirgisische Behinderte führt Julia Lindig an diesen neuen Blick heran. Das scheint etwas kulturfern, oder?

Gäbe es nicht auch in Deutschland genug auf diesem Gebiet zu entdecken, für das sich so ein Aufwand an Kreativität und Neugierde lohnen würde, um neue Perspektiven zu öffnen?

„Ja, sicher. Kann jeder machen. Ich gehe meinen Weg“, sagt die Frau, die das überhaupt nicht zynisch meint, sondern ganz im Gegenteil, sehr, sehr liebevoll: Sie, für die das Leben mehr ist als Spiel, haben eben erkannt, dass ohne das Spiel – in diesem Sinne das Schauspiel – auch das Leben nicht wirklich die Welt gestaltet, in der sie leben wollen.

So ist das.

Zusammen mit ihrer Freundin und Kollegin Inga Dietrich, ebenfalls Schauspielerin, war sie bereits dort. In den unendlichen Weiten einer Steppe, in der es nichts zu geben scheint, außer halbvertrocknetem Gras in einer wenig konturierten Hügellandschaft, hat die Kreativität Funken geschlagen - die am Ende mehr als die Steppe entzünden sollten.

Kirgisztan heißt das Land.

„Ich brauche das. Ich brauche die Welt. Ich muss sie anfassen. Meine Frage ist aber: Darf ich das Theater dort hinbringen, wo es bisher keines gibt? In Kirgisztan sagte man: ,Yes, Ma'am', also tat ich es.“ Fotos von beeindruckender Dichte, die Julia Lindig mitgebracht hat, sprechen die Sprache, die diese ungewöhnliche und ungewöhnlich lebendige Frau samt ihrer Freundin Inga Dietrich dort hingebracht haben, wo es kein Theater gab, in die Steppe – und wo das Schauspiel dennoch die Essenz eines Lebens ist, dessen Welt, voll von Phantasie, die Menschen aufwühlt.

Wer mehr sehen will, schaue sich die Seite www.sozialdorf.org an.

„Wir haben bei Gulja gewohnt“, erzählt Julia Lindig. „Gulja war einst Ärztin, ist heute blind und lebt Meilen von allem in einem kleinen Haus zwischen diesen Hügeln. Es gibt ein wichtiges Hilfsprojekt für dieses Dorf und seine Bewohner, welches ich unterstütze. Aber das, was dort bei unseren Workshops an Schauspielkunst entstanden ist, war spannender als vieles, was hierzulande mit viel Geld bezahlt wird.“

Alle sechs Bewohner des Hauses haben den Workshop, den die Berliner Schauspielerin Inga Dietrich geleitet hat, mitgemacht, Julia ist spazieren gegangen, hat sich auf die Wiese gelegt und hat nachgedacht.

„Abends haben wir unter dem Wellblechdach gesessen und auf die Sterne geschaut.“ Es wird wohl genau das sein, was man „Eine Auszeit nehmen“ nennt und als „kreativ“ schätzt – und wo Wichtiges entsteht aus der Ruhe, etwas, das später weitergegeben werden kann …

… und was dann tatsächlich auch bei anderen zu etwas führt: „Ein ganzer Plot um das kirgisische Epos Manas ist da entstanden. Das Heldenepos wird mit den behinderten Bewohnern des Sozialdorfes neu erzählt.“ Julia Lindig überlegt: „Ja, eigentlich ist das der Schlüssel zum Heldenepos, es geht um den Geist und nicht um den Körper. Das können wir ausdrücken, wenn wir mit Menschen arbeiten, deren Körper nicht so funktioniert, oder einfach anders ist, als der Körper eines Helden, so wie man sich einen Helden eben vorstellt: Stark, schön und gewaltig. Der Gedanke hat bis zu den Theater-Granden in der Hauptstadt Kirgisztans, Bischkek, Kreise gezogen und begeistert.“

Udo Jürgens singt in einem seiner Lieder: „Auch kleine Steine ziehen große Kreise.“ Julia Lindig mit ihrem Theaterprojekt in einem kleinen Haus in der weiten Steppe Kirgisztans ist dafür eines der vielleicht vornehmsten Zeugnisse der Schauspielerei, die ansetzt, in unseren Tagen der Lebenswirklichkeit neue Facetten einzuhauchen.

Mittlerweile interessieren sich sogar Kollegen aus England für dieses von Zivilisation unverbrauchte und so emotionale Engagement. An „Manas“ wird 2013 in Kirgisztan weitergearbeitet. 2014 wird das Stück in Deutschland und Kirgisztan aufgeführt. So jedenfalls ist der Plan. Jetzt werden die Verbündeten gesucht. Denn Money makes the world go round, das ist hier nicht anders als überall sonst. Und warum auch nicht? Kultur ist Wert - oft mehr als Zahlen beschreiben. 600.000 Euro kostet so ein Projekt (nur um unseren Lesern eine Vorstellung zu vermitteln). Jeder ist eingeladen, sich mit seinen Möglichkeiten daran zu beteiligen, und so Teil zu haben an diesem außergewöhnlichen Kultur-Abenteuer.

So viel Engagement im sozialen Bereich – organisiert aus der Mitte der kulturellen Elite Deutschlands – macht aufmerksam. Weltweit. Mittlerweile ist Bangladesch ein weiterer Player. „Im September 2012 war ich dort, und habe auch Workshops gegeben. Auf Einladung der Theaterszene, die sehr an Inspirationen sowohl aus Deutschland, aber auch an meinen Erfahrungen in Kirgisien interessiert sind, haben wir in den Städten, Universitäten und Theatern dieses wunderbaren und kulturell so hochstehenden Landes atemberaubende Erfahrungen gemacht, gemeinsam mit den dortigen Theatermachern.“

Fotos: Julia Lindig - Link zum Foto-Feuilleton über Kirgisistan unten.

Julia Lindig ist keine Frau, die übertreibt: In Deutschland wird man voll Spannung zuschauen dürfen, wie die Bretter, auf denen die Inspiration neues Leben entstehen lässt, von Julia Lindig und ihrem Team mit Vielfalt aus dem Grasland Kirgisztan erfüllt werden. Das wird vieles befruchten; und dann, zusammen mit dem weiteren Weg durch Bangladesch, für uns einen bisher noch nicht bekannten Sinnesgenuss entstehen lassen.

„Mir geht es dabei nicht um meinen Erfolg“, unterbricht Julia Lindig an dieser Stelle den Höhenflug des Chronisten. „Mir geht es darum, die Kunst sichtbar zu machen – Kunst, die in Europa unbeachtet ist. Wir brauchen diese Bereicherung dringend und die Anderen brauchen uns. Das ist also ein wirklich fairer und fruchtbarer Deal.“

Wenn die ewig gleichen Gesichter in den ewig gleichen TV-Shows so etwas sprechblasengleich in die Showrooms der bestellten Claqueure blasen, möchte man weghören. Wenn Julia Lindig es sagt, gewinnen solche Erkenntnisse den Wert erlebter Gefühlswelten. Und die Glaubwürdigkeit, mit der sie mich anschaut, erobert mich.

„Die Menschen in Kirgisztan und Bangladesch machen tolles Theater, und sie leben dieses Theater. Im BITA Zentrum, in Chittagong, wo seit vielen Jahren äußerst erfolgreich Randgruppentheater praktiziert wird, Theater als Instrument des gesellschaftlichen Lernens, haben wir weitere Projekte geplant: Workshops, Schauspielklassen und Theateraktionen. Und natürlich sind wir schon eingeladen unser Helden Projekt dort zu zeigen und um weitere Bausteine zu erweitern. Hand in Hand, zusammen weitergehen.“

Verspielt fährt sich die Frau mir gegenüber durch die Haare, sinniert, schaut, mit klugem Blick, über ihre Bibliothek, sagt:

„Diese Ursprünglichkeit und die tiefe Verwurzelung des Theaters in der Gesellschaft ist in Deutschland nicht zu finden. Aber wir können wieder damit beginnen, jeden Tag ja sagen, zum Leben und zum lebendigen Theater. Ich habe gespürt, die Menschen dort brauchen unseren Blick und wir brauchen ihren. Als mein Freund, Prof. Dr. Israfeel Schaheen, der das Theaterinstitut der Universität in Dhaka leitet, bemerkte, wie wichtig der Austausch durch die Workshops für seine Studenten war, haben wir andere Universitäten besucht, auch dort gearbeitet - und natürlich viel erlebt. Es war herrlich.“

Also gibt es auch ein Fazit für die jetzige Arbeit der Schauspielerin Julia Lindig:

„Theater ist ein Lebensmittel.“

In einem sehr grundsätzlichen Vortrag hat Julia Lindig das in Bangladesch ausgeführt: Öffnet internen Link im aktuellen Fenster"Please take part in every kind of miracle"

„Alles, was an Nachrichten aus Asien hier ankommt, ist problematisch: Katastrophen, Unterdrückung, Armut. Wir müssen lernen, dass die Menschen dort nicht nur billig produzieren, sondern etwas ganz Eigenes und sehr Wertvolles haben. Wir müssen lernen, dass wir es sind, die nur die Seite des billigen Konsums wahrnehmen und alles andere ignorieren. Da haben wir einen riesigen blinden Fleck, den wir nicht haben sollten, wenn wir wirklich das sein wollen, was wir nicht sind, eine achtungsvolle und sozial entwickelte Gesellschaft! Mein gesellschaftliches und politisches Ziel ist, die lebendige und vielfältige Kultur dort sichtbar zu machen.“

„Theater gehört ins Leben.“

„An dieser Stelle setzt meine persönliche Verantwortung ein, die ich gerne mit anderen teile. Wir machen Theater – dort, auf den blinden Flecken unserer Landkarten! - und holen es hierher, um uns auszutauschen und die Welt ein bisschen bunter zu machen, für alle, die dabei sein wollen. Das natürlich ist die persönliche Entscheidung, die jeder selbst zu treffen hat. Wir jedenfalls legen los.“

Die Bretter, die die Welt bedeuten, gewinnen so einen völlig neuen Wert.

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