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Meet my Hero / Kirgisien

Drei Jahre lang haben wir in mehreren Heroes-Workshops Menschen mit Behinderung und professionelle Schauspieler zusammen auf die Bühne gebracht. Die Arbeit bestand aus einer vorsichtigen Annäherung der unterschiedlichen Akteure untereinander und hatte das Ziel, die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung in Kirgistan öffentlich sichtbar zu machen. Zum ersten Mal standen nun also Menschen mit Behinderung auf einer Theaterbühne und probten szenische Miniaturen.

An diesem Ereignis nimmt die kirgisische Öffentlichkeit großen Anteil. Die TV Sender senden, die Zeitungen schreiben und die Rundfunkstationen berichten.

Das Städtischen Drama Theaters in Bischkek, unter der Leitung von Aalama Umuralieva, war Gastgeberin des theatralischen Experimentes.

Die jungen Menschen mit Behinderung leben im Sozialdorf Manas (zur Webseite) in der kirgisischen Steppe, ca. 80 Km von Bishkek entfernt. Sie lernen, nach jahrelangen Heimaufenthalten, die eher Aufbewahrungen waren, ihr Leben selber zu gestalten. Das ist eine extrem große Herausvorderung, wenn man als junger Erwachsener bei Null beginnt. Brot backen, Gemüse und Blumen anbauen, eine kleine Kuhherde betreuen und den Hühnern eine Hütte bauen. In unserem Projekt stehen sie zum ersten Mal auf einer Bühne. Alle profitieren von der Vorerfahrung der musikalischen Ausbildung, die im Sozialdorf einen großen Stellenwert einnimt. 

Wir haben unser Ziel erreicht: Ab auf die Bühne, mitten ins Licht und ab in die Mitte der Gesellschaft mit den Dorfbewohnern aus Murake! Das Projekt ist abgeschlossen. 17HEROES e.V. setzt sich aber weiterhin mit einer monatlichen Dauerspende für die Arbeit im Sozialdorf Manas ein.

Julia Scarlett Lindig | Produktion, Öffentlichkeitsarbeit und künstlerische Leitung
Inga Dietrich | Künstlerische Leitung der Workshops

Arbeitsbericht

Vom 11.11. - 17.11.2013 fand der zweite „Heroes“ Workshop im Städtischen Drama Theater Bischkek statt. Teilnehmer waren wieder 8 Sozialdorfbewohner, sowie 10 Schauspieler aus dem Ensemble des Städtischen Theaters. 

Die Begegnung der Teilnehmer war, nach 4 Monaten Unterbrechung von vornherein von einem straken Ensemblegeist geprägt. Die Freude über die erneute Begegnung und Fortführung der Arbeit ermöglichte einen intensiven und konzentrierten Arbeitsprozess.

Die Gruppe hat täglich von 12.00 – 18.00 Uhr gearbeitet. 

Arbeitsschwerpunkte im ersten Teil des Workshops waren:

  • Paraverbale Kommunikation
  • Nonverbale Kommunikation
  • Kognition und Verhalten
  • Körpertraining, Wahrnehmungs-, Bewegungs-, Koordinations- und Geschicklichkeitsübungen.

In diesem Teil des Workshops wurde bewusst mit Überforderung und inszeniertem Chaos gearbeitet. Neben dem großen Spaß den diese Übungen bereiteten, entstand bei jedem Schauspieler auch ein Bewusstsein für seine Grenzen in den spielerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Frustrationstoleranz bei sich selbst, als auch beim Betrachten der Mitstreiter wurde ausgelotet.

Der zweite Teil des Workshops konzentrierte sich auf die Themen Identität und Textarbeit zum Manas Epos einzeln und chorisch. 

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Motivation, Ziele

Motivation

Wir machen Theater mit Menschen mit Behinderung in Kirgisztan. Wir wollen, dass Licht auf die Bühne fällt und die Situation der Menschen mit Behinderung gesehen wird, dass ihre Lebensumstände wahrgenommen werden. Wir mischen uns konstruktiv und kreativ ein.

Ziele

Wir beginnen mit einem Theaterworkshop

Erstes Ziel des Workshops ist die Entwicklung der Theaterarbeit durch Ensemblearbeit, Impulsübungen und strukturierte Improvisation. Wichtig ist, die Öffentlichkeit von Anfang an in den Prozess einzubeziehen. Die Theaterarbeit soll die behinderten Menschen in besonderer Weise sichtbar werden lassen. Sie ermöglicht mit den Mitteln einer künstlerischen Arbeit die Schönheit, die Kraft, den Mut und die besondere Lebenswirklichkeit der Teilnehmer in das Bewusstsein und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu bringen. Dieser Ansatz wird mit diesem Projekt zum ersten Mal in Kirgisztan verfolgt. Hier geht es nicht um Mitleid, sondern um Darstellung und Erleben auf Augenhöhe.

Über den Workshop

Der Workshop beginnt in Murake, im Sozieldorf Manas. Die behinderten Bewohner arbeiten täglich von 10:00 bis 16:00 Uhr in der zum Probenraum umgewidmeten Filzwerkstatt. Inga Dietrich leitet den Workshop, der aus Trainingselementen und Spielaufgaben besteht. Neben  intensiver Körper- und Stimmarbeit werden Kontaktimprovisationen, Tanzelemente und Impulsübungen eingebracht. Die Bewohner sind voller Neugierde dabei und entwickeln ihre Fähigkeiten ohne weiteres. Sie gewinnen Selbstvertrauen und Konzentration, wagen sich in den Übungen an ihre Grenzen und testen, wie weit sie mit ihrer speziellen Körperlichkeit gehen können. In den abendlichen Gesprächen kommen natürlich auch Befürchtungen zur Sprache. Die Bewohner sprechen über die Angst, nicht gut genug zu sein, oder vielleicht sogar ausgeschlossen zu werden, aber das ist nach einigen Tagen vergangen. Inga Dietrich ist in ihrer Arbeit immer konkret und genau, die Bewohner verstehen die Aufgaben und fühlen sich wohl und gestärkt. Taalay Ismailbekov, der die Bewohner seit Jahren kennt und betreut, übersetzt simultan und unterstützt den Prozess in vielfältiger, sensibler Weise. Er ist unverzichtbar für alle, und versteht den Prozess jedes Einzelnen im Detail. Das hilft bei der Arbeit, die in diesem Stadium eine wirkliche Feldforschung ist. Der Weg der kleinen Schritte eben.

Nach einer Woche ziehen die Bewohner nach Bishkek um, der Workshop geht jetzt im Städtischen Dramatheater mit den professionellen Schauspielern weiter. Die beiden Gruppen treffen aufeinander und die Ensemblearbeit wird gemeinsam weiter geführt. Es gilt als erstes Berührungsängste zu überwinden, Vorsicht in Sicherheit zu wandeln und aufeinander zuzugehen. Auch hier ist die Erfahrung, die Inga Dietrich in 15 Jahren künstlerischer Arbeit mit Behinderten gewonnen hat, ein unverzichtbarer Bestandteil der erfolgreichen Zusammenarbeit. Ihre Sicherheit überträgt sich schnell, alle konzentrieren sich auf die gestellten Aufgaben und vergessen den „kleinen“ Unterschied.  Vier intensive Tage lang wird ausprobiert und geprobt, geübt und Neues gewagt. Die Befürchtung der Theaterleitung, die behinderten Teilnehmer könnten der Arbeit physisch und psychisch nicht gewachsen sein, ist schon am zweiten Tag überwunden. Sie staunen über den Mut und die Selbstständigkeit der behinderten Teilnehmer in der künstlerischen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen. Die professionellen Schauspieler sind begeistert und lernen, ganz nebenbei, europäische Arbeitsweisen kennen. 

Öffentlichkeit

Öffentlichkeit

Am letzten Workshop-Tag ist die Presse zu einer offenen Probe eingeladen und kommt überraschender Weise, trotz Sommerpause, zahlreich. Am Abend sitzen die Bewohner in Murake vor dem Fernsehen und sind stolz und sehr glücklich über den TV Beitrag zu unserem Theaterworkshop.

Was die Presse schreibt...

Ergebnisse

Wir haben es geschafft

Die erste Theaterarbeit mit behinderten und nicht behinderten Menschen in Kirgisztan findet statt und wird öffentlich wahrgenommen. Wir sind Stadtgespräch! Auf unserer privaten, anschließenden Reise durch die Hochebenen, erzählt uns doch wirklich eine Frau von dem Ereignis, sie hat es in der Zeitung gelesen. Wir sind berührt und glücklich. Das ist viel mehr, als wir gehofft haben. Der Weg der kleinen Schritte hat mit einem Großen begonnen. 

Verbindung und Perspektive

Zusammen mit dem gemeinnützigen Verein Uplift-Aufwind e.V., der in Kirgisztan schwer vernachlässigte Kinder in Waisenhäusern betreut, beschließen wir, die Theaterarbeit weiter zu tragen. Unsere behinderten Darsteller sollen lernen, selbst Trainings und Workshops zu leiten und in der Winterzeit, wenn die Tage kurz und schwer sind, im Waisenhaus in Belovodskoe, nur sechs Kilometer von Murake entfernt, mit den ersten  Versuch dieser Art zu beginnen. Das erfordert in der Vorbereitung (Oktober 2013, also gleich) natürlich einiges an Systematik und Aufmerksamkeit, die wir aber leisten können und wollen. Versuchen wir es! Das Team von Uplift – Aufwind e.V. wird diesen Schritt zusammen mit uns realisieren.

Die Filzwerkstatt

Und noch ein kleines Wunder am Rande! Die Bewohner des Sozialdorfes Manas nähen die traditionellen Filzkissen und Hausschuhe, die in Kirgisztan überall auf den Märkten zu finden und zu kaufen sind. Mit dieser Arbeit tragen sie zu ihrem Lebensunterhalt bei. Da es aber niemanden gibt, der sie bei der Wahl der Muster und Farben berät, gibt es hier einen Bedarf an Erneuerung und Entwicklung. Wir haben, der traditionellen Linie folgend, aber sie doch nach unserem (europäischen) Geschmack erneuernd, vorgeschlagen Mützen aus Filz zu nähen. Auf dem Osch-Basar in Bishkek fanden wir Filze in ausgefalleneren Farben, kombinierten sie mit Kordeln in modernen Farbstellungen und verbrachten einige Abende mit der Herstellung von Schnitt- und Farbmustern. Als wir von dem privaten Teil unserer Reise, 10 Tagen später, nach Murake zurückkehrten, erwarteten uns vierzig wunderschöne, handgenähte Filzmützen! 

Zurück in Berlin fanden die Mützen schnell Abnehmer im Freundeskreis und nun lassen wir, als Beitrag zum Gelingen diese „Lebensunterhaltsprojekts“, Etikette sticken, die in die Mützen eingenäht werden und zeigen woher sie kommen: HEROS MANAS. 

Ein springendes Pferdchen als Logo dazu, und ein Miniaturheftchen mit der Geschichte der Mützen, auf deutsch, kirgisisch und russisch. Auch dies ist ein gemeinsames Projekt, und zeigt, zusammen können wir mehr schaffen und Identitäten verbinden. 

Entwicklung der Filzwerkstatt

Wir haben versprochen, bei unserem nächsten Besuch einen kleinen Familienbetrieb zu finden, der Filz herstellt, um den Filz für die Werkstatt dann direkt von dort zu beziehen und nicht über den Basar in Bishkeck. So kann man Einfluss auf Farbe und Materialqualität nehmen und eine kreative Verbindung schaffen.

Durch die enge Verbindung zu Einzelfallhilfe-Berlin e.V. die zusammen mit der wunderbaren und kreativen Filzwerkerin Barbara Krüger seit einem Jahr eine Filzwerkstatt aufbaut, haben wir auch hier eine konkrete, kompetente Verbindungsperson, die in künstlerisch Weise arbeitet, inspiriert und realistisch zugleich. Wir stellen uns vor, dass sie die Entwicklung der Filzwerkstatt in Murake begleitet und bereichert. 

Zauberei und Magie

Warum, fragt Julia Lindig

Erste Gedanken und Schritte. Meine Freundin und Kollegin Renate organisiert in Berlin einen Vortrag über das Kinderheim Nadjeschda in Kirgisien. Hier werden Kinder aufgenommen, die wegen ihrer Behinderung keine Chance zum Überleben haben. Kinder, die nicht in die Gesellschaft integriert werden können und die nicht „gebraucht“ werden.

Ich beginne darüber nachzudenken, wie wir Geld zur Unterstützung des Kinderheimes zusammenbekommen können. Wir können einen Aufruf auf unser Webseite schalten zum Beispiel. Also einen Geld-Transfer von Westen nach Osten organisieren? Oder erst mal rausfinden, was dort überhaupt gebraucht wird? Etwas später sitze ich mit Inga auf dem Balkon. Ich habe Liebeskummer und erzähle Ihr davon. So ganz nebenbei erzähle ich auch von Nadjeschda. Inga arbeitet seit vielen Jahren beim Theater Thikwa und macht Körperarbeit mit Behinderten und Nicht-behinderten Schauspielern. Inga nimmt den Faden sofort auf, wie wäre es wenn wir ein Projekt mache, eine Begegnung schaffen. Die Künstler von Thikwa mit den Menschen von Nadjeschda zusammenbringen? Genau, Kunst kann der Transport sein.

Wir leben weiter und setzten uns mit anderen Freunden zusammen und berichten von unserer Idee. Renate schlägt das kirgisische Epos Manas als Grundlage der Arbeit vor. Rüdiger schlägt das Nibelungenlied als Gegenpart vor. Inga versteht diesen Zusammenhang sofort, ich muss ihn noch finden. Ich beginne mit dem Epos Manas. Eine uralte Geschichte von Mut, Streit, Vertreibung, Unterdrückung, Auflehnung und Hoffnung. Nadjeschda – Thikwa. Beides bedeutet Hoffnung. 

Was hat das mit meinem Liebeskummer zu tun? Eine uralte Geschichte von Mut, Streit, Vertreibung, Unterdrückung, Auflehnung und Hoffnung. Ich bin bereit für eine Neuorientierung. Erste Schritte in unbekanntes Land. Den bekannten Raum verlassen und über Grenzen gehen. Ohne Erwartung, erst mal nur mit der Neugierde im Gepäck. Wo kommen wir hin? Können wir unsere Konzepte verlassen und trotzdem beschützen? Die Nibelungen sind reich, sie leben prachtvoll und satt. Sie kümmern sich um Samt und Seide, die Farben des Glanzes und sie sind doch nicht glücklich. Eine uralte Geschichte von Mut, Streit, Vertreibung, Unterdrückung, Auflehnung und Hoffnung. 

Die Kirgisen sind Nomaden, ihr Material ist der Filz. Sie reiten auf zähen Pferden und walken die Wolle ihrer Schafe zu Kleidung und Schutz. Soviel man tragen kann, nicht mehr. Wir, die in Überflussland leben, gesichert durch bewachte Grenzen, über die kein Hungernder treten soll, um uns die Butter vom Brot zu nehmen, wir, die nicht teilen können, die mit großer Geste das Hab und Gut als uns angemessen und immer noch als zu wenig betrachten, wir wollen also über die Grenze gehen und die Geschichten verbinden. Wollen wir uns selbst den Spiegel vorhalten? Suchen wir etwas Bestimmtes, etwas was uns fehlt? Wollen wir, zu allem Überfluss, das Herz der wandernden Kirgisen auch noch verspeisen? Ich bin mir nicht sicher und trenne die Geschichte vorsichtshalber mal von mir ab. Das Große vom Kleinen, obwohl ich dabei unsicher werde. 

Meine Motivationen lasse ich unhinterfragt zurück, dafür ist später noch Zeit. Die Fragen können sich selbst überlassen bleiben und sich auf dem Weg selbst klären. Ich konzentriere mich ganz auf das Jetzt. Ich werde also nach Kirgisien reisen und die ersten unsicheren Schritte tun. 

Wie wird es sein? Wird es kalt sein, rau und gefährlich? Werde ich mich verlieben in Filz, den Urstoff der Wärme? Werden wir aufgenommen oder stehengelassen? Beraubt, beglückt, alleingelassen oder von der Idee getragen? Trägt die Idee, oder ist zu groß? Das werden wir herausfinden und mit dem, was wir erleben zufrieden sein. Darauf werden wir aufbauen. Auf jeden Fall die Erfahrung teilen und auf jeden Fall Erfahrungen machen. Auf nach Kirgistan, jetzt buchen wir die Flüge, es kann losgehen! 

Julia Scarlett Lindig

Ein Topf voll Gold, sagt Inga Dietrich

... am Ende des Regenbogens

Als ich im Oktober 2012 zum ersten mal nach Kirgizstan fuhr, war meine Vorstellungen über das Land in erster Linie von Tschinges Aitmatow Büchern und dem Manas Epos geprägt. Die mageren Presseberichte die ich im Vorfeld über Kirgizstan finden konnte, beschränkten sich hauptsächlich auf die Unruhen im Jahr 2010 und auch die Erzählungen von Leuten die vor Ort Erfahrungen gesammelt hatten, waren neben der Begeisterung für Land und Menschen, auch immer mit negativen Bildern versehen, wie z.B. die schwierige Situation von Menschen mit Behinderung in Kirgizstan, oder der vorherrschenden Armut und Korruption. Ich kann nicht behaupten, dass ich ganz ohne Bedenken losfuhr, aber die Neugier ins Land von Manas und Aitmatow zu reisen, beflügelte... 

Wenn ich in einem fremden Land ankomme, ist es fast immer dasselbe: ich werde ganz Ohr und Auge. Erst Ohr, dann Auge. Ich mag Geräusche und jede Stadt, ja jedes Land hat seine eigenen Klänge und Sounds. Bischkek die Hauptstadt Kirgizstans z.B., ist ein Konzert von Bremsen, Quietschen, Hupen, Menschen- und Vogelstimmen für mich, durch die ungefilterten Abgase in der Stadt, klingt alles etwas gedämpft. Das Umland ist geprägt von Treckern, Kleinlastern und Hunden, Wasser, Wind und Stille. Im Sozialdorf sind es die Stille und die bellenden Hunde in der Entfernung, die für mich den Grundton angeben. Dahinein weben sich die Rufe nach "Amantur", "Fatima" und "Ruslan", sowie das Kinderlachen. Ein Wohlklang.

Das Auge hat schon mehr Schwierigkeiten die Bilder in Einklang zu bringen. An einem Ort vereinen sich mitunter die widersprüchlichsten Bilder. Kaputte Strassen und Häuser, Müll in Gruben, auf Plätzen und am Wegrand, dazwischen eine Steppe gespickt mit Schafen, Pferden und Kühen, sowie die allgegenwärtigen Berge, die unglaublich wunderschönen Berge. Das Licht in Kirgizstan spielt mit den Landschaften wie ein Meisterbeleuchter und zaubert ständig neue Atmosphären und Bilder. In Murake habe ich unendlich viele Bilder von immer derselben Aussicht auf die Berge gemacht, kein Bild gleicht dem anderen. Ja und dann die Regenbögen, mal einer, mal zwei, sogar drei auf einmal kann man sehen.

Die meisten Regenbögen habe ich in Murake, im Sozialdorf gesehen. Wenn ich heute einen neuen Namen für das Dorf finden müsste, würde ich es Raduga, Regenbogen nennen.

Als wir im Oktober im Sozialdorf ankommen, begrüßen uns sechs Bewohner, die Hauseltern mit ihren drei kleinen Kindern, eine Filzhandwerkerin, sowie eine Musiklehrerin, die uns mit den Bewohnern einen musikalischen Empfang bereitet. Vorab besichtigen wir den Rohbau für ein zweites Haus und die Handwerker sitzen gerade oben auf dem unfertigen Dach und machen Pause. Ich entdecke auf der Baustelle keine Maschinen. Später sehe ich einen Handwerker die Dachbalken mit einer Axt zurechtschlagen und bin beeindruckt von der Präzision seiner Arbeit. Vom Dorf Murake sehe ich wenig, lediglich zwei Häuser in einiger Entfernung zum Haus des Sozialdorfes. Wir stehen auf einer Anhöhe und der Blick vor dem Haus richtet sich auf beindruckende Berge. Der ausgetrocknete Fluss weiter unten ist von hier aus nicht zu sehen, aber das fehlende Wasser wird uns später begegnen.

 Die Atmosphäre ist von Neugier und Offenheit geprägt und beim anschließenden "Willkommensessen" überwinden wir schon die Sprachbarrieren und kommunizieren mit Gestik und Mimik, als wäre es das normalste der Welt. Für mich ein wichtiger Moment, denn zu diesem Zeitpunkt wusste ich, dass die Theaterarbeit mit den Bewohnern große Chancen auf Erfolg haben würde - und ich sollte mich nicht täuschen.

Das Ziel unserer Reise war in einem Workshop herauszufinden, ob wir Menschen mit Behinderungen finden, die sich für unsere Projektidee begeistern und die genügend Mut und Selbstvertrauen aufbringen, sich auf eine Theaterarbeit überhaupt einzuassen. In diesem Falle war es der Mut etwas gänzlich Neues zu wagen und das vor einem mitunter fremden Publikum. Sich selbst und seine Fähigkeiten zu erforschen, mit all seinen Grenzen. Für eine Gruppe von Menschen die isoliert am Rande ihrer Gesellschaft leben, nicht selbstverständlich.  Die sechs Teilnehmer haben sich mit einer solchen Kraft und Freude in dieses Abenteuer gestürzt, dass ich innerhalb kürzester Zeit meinen Arbeitsplan erweitern musste. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mut und Offenheit, Kritik- und Abstraktionsfähigkeit, Disziplin und Leidenschaft begegneten mir täglich bei der gemeinsamen Arbeit. Und einen Ensemblegeist musste ich auch nicht aufbauen, denn die Gruppe ist in allen Lebenslagen schon ein perfektes Ensemble. Ein Traum für jede Regisseurin. 

Mit der Gewissheit einen besonderen Schatz in Murake gefunden zu haben, begegneten wir der Theaterleitung des Städtischen Drama Theaters in Bischkek. Die Direktorin Aigul Umuralieva war widererwartend schnell bereit, sich auf ein Theaterprojekt mit unserer Gruppe einzulassen. In ihren Augen sind wir, ob behindert oder nicht, alle gleich, war eine ihrer Begründungen. Das war und ist für mich immer der Moment wo ich insistiere. Warum müssen wir alle gleich sein? Wir sind es nicht. Mein Interesse Theater mit Menschen mit Behinderung zu machen, liegt nicht darin zu zeigen das wir alle gleich sind, sondern ich ergänze lediglich das Spektrum von menschlichem Dasein in seiner theatralischen Darstellungsmöglichkeit. 

"Denn, um es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Friedrich Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts)

Diesen Satz von Schiller habe ich natürlich nicht zitiert, aber Aigul Umuralieva lächelt und wird neugierig. Wie stellt ihr euch das genau vor? Welche Form soll das Theaterprojekt haben? Welches Thema? Wir tauchen ein ins Mögliche. 

Einen Tag später schon, lädt Aigul Umuralieva die Gruppe aus Murake ein, ihr Theater und die Schauspieler kennenzulernen und sich ausserdem zwei Theaterstücke anzusehen. Ich sitze vor dem Haus in Murake, als Taalay unser guter Geist und Dolmetscher diese Nachricht überbringt. Ein hörbares Strahlen geht dur das Sozialdorf und ein Hundebellen aus der Entfernung gibt Antwort.

Julia und ich fliegen mit dem Plan einem gemeinsamen Workshop im kommenden Jahr 2013 zu ermöglichen zurück nach Berlin. Für die erste Reise nach Kirgizstan, finde ich, haben wir einen Topf voll Gold am Ende des Regenbogens gefunden und ich bin mir sicher, es wird nicht der letzte sein.

Inga Dietrich

Wissenswertes zu Kirgizstan

Wissenswertes zu Kirgizstan

Kirgizstan, eine junge Demokratie

2010 hat die kirgisische Bevölkerung über eine Verfassung abgestimmt, die nach deutschem Vorbild verfasst wurde und mit 90% der Stimmen verabschiedet wurde. Sie ist eine junge und auch die einzige Demokratie in Zentralasien.

Die Republik Kirgizstan ist an seinen Grenzen umgeben von Kasachstan, China, Tadschikistan und Usbekistan. Es erstreckt sich auf knapp 200.000 Quadratkilometer Hochgebirgslandschaft. 

Das Klima Kirgisztans ist von trockenen und kontinentalen heißen Sommern und von kalten Wintern geprägt. Die täglichen Temperaturschwankungen sind erheblich. Im Süden des Landes werden im Sommer Temperaturen von 45 °C gemessen, während im Winter die Temperaturen auf –18 °C fallen können. Keine einfachen Voraussetzungen um 5,5 Millionen Einwohner zu ernähren. 

Die Bevölkerung setzt sich aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammen: Kirgisen, Usbeken, Russen, Dunganen, Tadschiken, Uiguren und anderen Volksgruppen. Da die geografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht einfach sind, müssen alle Familienmitglieder mitverdienen. Seit der Unabhängigkeit der Kirgisischen Republik 1991 kam es in der Wirtschaft des Landes zu erheblichen institutionellen Veränderungen. Wirtschaftsbetriebe wurden im großen Stil privatisiert. Endziel der neuen Wirtschaftsformen ist der Aufbau einer freien Marktwirtschaft. 

Geschichte

Die Vorfahren der heutigen Kirgisen kommen vermutlich aus Sibirien. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. drangen die Russen nach Zentralasien vor; Kirgizstan ging in der Russischen Föderation auf und wurde 1936 eine eigenständige Sowjetrepublik. Viele Nomaden wurden während der Kollektivierung unter Zwang sesshaft, was zu blutigen Revolten führte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstand im Jahr 1991 die eigenständige kirgisische Republik. Heute gilt Kirgizstan als eines der stabileren zentralasiatischen Staaten. 

Menschen mit Behinderung

Bei allen diesen komplizierten und komplexen Verhältnissen ist es verständlich, dass die Bevölkerung nur langsam einen Blick auf die Randgruppen ihrer Gesellschaft wagt. Doch sie tun es. Die Situation von Menschen mit Behinderung in Kirgisztan ist nach wie vor schwierig, aber die Bereitschaft diese Situation zu verbessern ist von Seiten der Bevölkerung gegeben – und sie sind hierbei für jede Unterstützung dankbar. 
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Künstler in Kirgistan

Zentralasiatische Länder wie Kasachstan, Kirgizstan und Usbekistan sind rein räumlich weit von anderen Ländern, mit denen Austausch stattfinden könnte, entfernt. Die Theaterschaffenden in Zentralasien sind vom Rest der Welt faktisch so gut wie abgeschnitten. Mit den ehemals sowjetischen Ländern existiert so gut wie kein Austausch mehr, und für einen Studienaufenthalt z.B. in Moskau, im Baltikum oder gar in Westeuropa reichen die finanziellen Mittel nicht mal im Traum. Auf der anderen Seite kommen durch die so entfernte Lage und die rein geographische Größe Kirgizstans auch nur selten Kulturschaffende anderer Länder hier vorbei, es besteht also im Ganzen für alle Seiten nur wenig Gelegenheit für kulturellen Austausch und damit einhergehende kulturelle Entwicklung. Das Bedürfnis nach Erneuerung, nach der Entdeckung neuer Welten, neuer Horizonte, ist von Seiten der Kulturschaffenden enorm- und zugleich existiert für sie die Möglichkeit, andere Länder zu bereisen, durch die desaströse wirtschaftliche Lage vor allem der im kulturellen Bereich Tätigen, so gut wie nicht.

Wirkungsweise